Heruntergekommen

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In China erzählt man sich folgende Geschichte *: Ein Fürst gibt ein großes Fest. Viele Gäste sind eingeladen. Es beginnt zu regnen, und vor der Toreinfahrt bildet sich eine große Pfütze. Als ein vornehm gekleideter Herr aus seinem Wagen steigt, rutscht er aus und fällt der Länge nach in die Pfütze. Mühsam steht er auf. Er ist von oben bis unten schmutzig und nass und sehr geknickt. »So kann ich mich nicht auf dem Fest sehen lassen«, denkt er. Einige Gäste machen schon spöttische Bemerkungen. Ein Diener meldet de Vorfall dem Fürsten. Dieser eilt sofort hinaus und erreicht den Gast gerade noch, als er zurückfahren will. »Bleib doch, mir macht der Schmutz an deinen Kleidern nichts aus«, sagt der Fürst. Doch der Gast hat Angst vor den Blicken und dem Getuschel der anderen Gäste. Da lässt sich der Fürst mit seinen kostbaren Kleidern in dieselbe Pfütze fallen, so dass auch er von oben bis unten voller Dreck ist. Er nimmt den Gast an der Hand, und beide gehen in den festlich geschmückten Saal. 
Weihnachten ist das Fest, an dem Gott sich in die Pfütze fallen lässt. An dem er den vornehmen Himmel verlässt und sich dem Elend und dem Schmutz der Welt aussetzt. Gott wird ein Mensch: Jesus. Er lässt sich nicht nur dazu herab, dass er sozusagen mit zwei Fingern in die Welt eingreift, so wie ein Modellbauer in seine Modellanlage, wenn er etwas verändern will. Gott lässt sich nicht in vornehmer Distanz zu uns herab. Nein, er steigt herab. Er kommt herunter von seinem Thron. Er kommt herunter aus dem Himmel. Er kommt herunter und hinein in unsre Welt. Und zwar auch und gerade da hinein, wo’s schmutzig ist und wo wir am liebsten nicht hinwollen. 
Wir haben im doppelten Sinn einen heruntergekommenen Gott. Er ist heruntergekommen vom Himmel. Und er sieht so heruntergekommen aus, dass man ihn fast nicht erkennt. Man muss da ganz genau hinschauen. Wenn wir das tun und wenn wir dann tatsächlich Gott erkennen, dann ist wirklich Weihnachten. Weihnachten heißt: Ausschau halten nach dem heruntergekommenen Gott. Machen Sie mit?

Herzlich,
Matthias Trick

* Nach Ralf Johnen in: Typisch! Kleine Geschichten für andere Zeiten, 5. Auflage, Hamburg 2016, 22.