Jahreslosung 2015

Römer 15,7


Unsere Gedanken zur Jahreslosung

„Ein Christ kommt zum andern nur durch Jesus Christus.“ So steht es in der Einleitung des Büchleins „Gemeinsames Leben“ von Dietrich Bonhoeffer. Sehr lesenswert übrigens. Es ist die beste Schrift zu unserem Thema, die ich kenne.

„Ein Christ kommt zum andern nur durch Jesus Christus.“ Aber stimmt das eigentlich? Beziehungsweise: Ist das die Aussage, die in unserer Jahreslosung drin steckt aus Römer 15,7:

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“?

„Nehmt einander an“! Das ist ein Befehl, eine Anweisung, ein Auftrag. „Nehmt einander an“! Das ist so leicht gesagt wie getan, wenn es um die geht, die wir mögen, die uns sympathisch sind, die unsere Interessen und unsere Weltsicht teilen und unsere Art, den Glauben zu leben.

„Nehmt einander an“! Das ist so schwer, ja es ist fast unmöglich, wenn es um die geht, die uns unsympathisch sind, die unsere Interessen, unsere Weltsicht, unsere Art, den Glauben zu leben, NICHT teilen, mit denen uns einzig und allein die gegenseitige Abneigung verbindet. Die wir am liebsten auf den Mond schießen würden.

„Nehmt einander an“! Wie soll das gehen, wenn da eine Mauer ist zwischen mir und dem andern? Vor 25 Jahren hat man die Mauer in Berlin abgerissen. Der Weg zur Deutschen Einheit war frei. Und später hat man angefangen von der Mauer in den Köpfen zu reden.

Und Mauern im Kopf gibt es nicht nur zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. Mauern im Kopf gibt es auch zwischen Nordeuropa und Südeuropa. Mauern im Kopf gibt es zwischen Europa und Afrika, zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen, zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen Reichen und Armen.

Mauern im Kopf gibt es zwischen einzelnen Menschen, zwischen den Schülern in der Schule, zwischen den Partnern in der Ehe, zwischen mir und dem andern.

Mauern im Kopf gibt es auch in der Kirche; Mauern, die unüberwindlich sind; Mauern, die so fest gebaut sind, dass sie sich nicht einreißen lassen; Mauern, durch die das „Nehmt einander an“ einfach nicht hindurchdringt, sondern an denen es abprallt.

„Nehmt einander an“ – wie soll das gehen über die Mauer hinweg? Antwort: Es geht GAR NICHT – über die Mauer hinweg. Aber es geht UM DIE MAUER HERUM – jedenfalls nach der Jahreslosung. Die besteht ja nicht nur aus den ersten drei Worten, sondern sie geht noch weiter: „Nehmt einander an, wie Christus EUCH angenommen hat“.

Jetzt geht es hier nicht nur um ein gutes Vorbild, so nach dem Motto: Nehmt euch Jesus als Beispiel, macht’s wie er. Jesus hat jeden angenommen; er hat keinen abgelehnt. Und deshalb sollen wir das auch so machen. Aber so einfach ist das nicht. Wir können uns noch so anstrengen, manchmal geht das nicht.

Man kann diesen Satz im griechischen Urtext aber auch noch anders verstehen. Dann bedeutet er nicht: „Nehmt einander an, WIE Christus euch angenommen hat“, sondern: „Nehmt einander an, WEIL Christus euch angenommen hat“. Der zweite Satzteil ist dann die Begründung vom ersten. Es geht nicht nur darum, dass ich mich anstrenge, damit ich den andern gern habe, sondern es geht darum, dass ich den andern von JESUS her sehe und – dass ich auch MICH von JESUS her sehe. Und von JESUS her gesehen unterscheide ich mich gar nicht so groß vom anderen. Von JESUS her gesehen gilt, dass ich GENAUSO auf Vergebung angewiesen bin, wie der andere, und dass der andere genauso angenommen und beschenkt ist, wie ich selbst.

Von den Mönchen der Alten Kirche gibt es eine schöne Erzählung. Ein Klosterbruder war in schwere Sünde gefallen. Die Mönche haben daraufhin eine Versammlung abgehalten. Sie haben beschlossen den Altvater Moses zu holen. Er solle kommen und ein Urteil sprechen. Aber der Moses wollte nicht kommen. Sie haben ein zweites Mal zu ihm geschickt und gesagt, es sei dringend, dass er komme und die Sache regle. Da ist  der Moses aufgestanden, hat einen durchlöcherten Korb genommen, mit Sand gefüllt und hat ihn auf die Schulter genommen. Und die anderen Mönche haben ihn gefragt: „Was ist das, Vater?“ Und der Alte sagt zu ihnen: „Das sind meine Sünden. Hinter mir rinnen sie heraus, und ich sehe sie nicht, und jetzt bin ich heute gekommen, um fremde Sünden zu richten.“ Als sie das hörten – so schließt die Geschichte – haben sie nichts mehr zu dem Bruder gesagt, der gesündigt hatte, sondern sie haben ihm vergeben.

Von Jesus her gesehen leben wir ALLE davon, dass er uns vergibt. Wir leben ALLE davon, dass er uns annimmt. DESHALB ist es so wichtig, dass wir nicht zuerst auf den anderen schauen, sondern dass wir zuerst auf Jesus schauen. ER zeigt uns den andern. ER verbindet uns mit dem andern, auch um die Mauer herum, die zwischen uns steht. Und vielleicht sorgt er dann ja auch dafür, dass diese Mauer irgendwann zu bröckeln beginnt und schließlich zusammenfällt, so wie damals die Mauer in Berlin.

Unsere Jahreslosung ist kein oberflächlicher Spruch, so nach dem Motto: „Piep, piep, piep, wir hab‘n uns alle lieb.“ Es geht hier nicht drum, dass wir uns immer alle um den Hals fallen müssten. Dafür gibt es zu viele Unterschiede, zu vieles, was uns trennt, zu vieles, was uns an anderen stört. Das kann man nicht immer einfach übergehen.

Vor ein paar Jahren habe ich mal eine Einladung bekommen zu einem großen Treffen der JesusFreaks. Das war ein bunter Werbeflyer, toll aufgemacht und einladend. Aber an einer Stelle stand etwas Komisches. Da stand sinngemäß: Mach dich darauf gefasst, dass Du dort mit Menschen zusammentriffst, die stinken, die Läuse haben, und die dir vielleicht auf die Nerven gehen.“ Und dann war der letzte Satz: „Aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie gehören zu Jesus.“

Nicht weil wir uns alle so sympathisch wären, sollen wir einander annehmen, sondern weil wir durch Jesus Christus Brüder und Schwestern sind. „Ein Christ kommt zum andern nur durch Jesus Christus.“ Sagt Dietrich Bonhoeffer. Und wenn das passiert, wenn wir einander um Christi willen annehmen, wenn wir anderen so begegnen, wie Christus uns begegnet, dann wird dadurch Gott gelobt. Das ist der dritte Satzteil unserer Jahreslosung. „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.“ Möge unser Umgang miteinander das Lob Gottes zum Ausdruck bringen.

 

von Pfarrer Matthias Trick